Die Baukunst gilt als eines der Aushängeschilder einer Kultur. Bauwerke geben uns tiefe Einblicke in die Geschichte überall auf der Welt. Sie erzählen weitaus mehr als nur, inwieweit man in der Lage war zu bauen. In Bauwerken spiegeln sich Wirtschaft, Politik, Religion, Philosophie und vieles mehr einer Zeit wider. Daraus resultiert eine Bandbreite an verschiedenen Baustilen weltweit, die unermesslich erscheint.
Wer sich mit dem Thema „Bauen“ beschäftigt, kann sich unversehens mit den unterschiedlichsten Fragestellungen auseinandersetzen, die sich weit ins persönliche Leben erstrecken
Für uns ist der derzeitige „Mainstream“ des Bauens in Deutschland und Europa vor allem durch die so genannte Wirtschaftlichkeit geprägt. Heutzutage sind die Dienstleistungen das Teuerste an einer Baustelle – „Zeit ist Geld“. Priorität ist folglich, die Baustelle in kürzester Zeit fertig zu stellen. Ermöglicht wird dies durch den Einsatz von modernen Baustoffen, wie Beton und Kunststoffen, High-Tech- Geräten und Maschinen, wie Satelliten zur Vermessung oder 3D-Druckern, oder einfach durch den inflationären Mehrverbrauch von Material zugunsten geringerem personellen Aufwand, wie Wegwerfpinseln - früher wurde ausgewaschen.
Dieser historisch bisher einmalige Ressourcen- und Energieaufwand lässt sich nur durch eine weltweit extrem unfaire Ressourcennutzung, natur- und klimaschädliche Industrien und die ethisch nicht vertretbare Ausbeutung anderer Staaten und Menschen realisieren. Im Hinblick auf eine lebenswerte enkeltaugliche Zukunft ist diese Art zu bauen für uns keine Option.
Der Vorsatz, konsequent bei einem Bauvorhaben auf ethische, umweltschonende und nachhaltigkeitsorientierte Vorgehensweisen zu achten, macht eine Realisierung unter den heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fast unmöglich. Entweder ist es zu teuer, dauert zu lange, der Anspruch an Behaglichkeit und Bequemlichkeit kann nicht erfüllt werden oder das Wissen um Bautechniken ist nicht (mehr) vorhanden bzw. notwendige Materialien sind nicht (mehr) zu beschaffen.
Die Verwendung von Begriffen wie „ökologisches“ oder „nachhaltiges“ Bauen erfüllen meist eher die Befriedigung des Wunschgefühls danach, als dass sie etwas über die reale Umsetzung sagen.
In der Spinnerei wollen wir so konsequent wie möglich nachhaltiges, sozial verträgliches, ökologisches und experimentelles Bauen realisieren
Schon die Formulierung „wie möglich“ macht deutlich, dass wir nicht erhoffen, dies zu 100% umsetzen zu können. Dem stehen einerseits z.B gesetzliche Standards entgegen (z.B. gewisse Brandschutzvorgaben), verloren gegangenes Handwerkswissen und ein fehlender Zugang zu natürlichen Ressourcen (z.B. für den Lehmwickeldeckenbau notwendiges Langstroh ist kaum noch erhältlich). Andererseits sind wir in unseren Denkweisen und Ansprüchen natürlich selbst derart von unserer Gesellschaft geprägt, dass auch wir häufig in einem vorgegebenen emotionalen und gedanklichen Rahmen handeln.
Dennoch eröffnen sich schon bei unserer Herangehensweise unglaubliche Potenziale. Allein auf dem Gebiet „Wiederverwertung von Materialien“ haben wir verhältnismäßig große Mengen an Baustoffverbrauch einsparen können. Dem gegenüber müssen übliche Baustellen wie Verschwendungs- und Abfallintensivierungsprozesse erscheinen.
Wir wollen beispielgebend dafür sein, wie zukunftsfähiges Bauen gestaltet sein kann. Gemäß dem Spruch „Probieren geht über Studieren“ verstehen wir uns dabei als ein Experimentierraum, der vonnöten ist, um für die speziellen Fragestellungen des Bauens ökologische und sozial vertretbare Lösungen zu finden. Dabei ist für uns der Erfahrungsaustausch mit Handwerksmeistern, Wissenschaftlern, Ingenieuren oder auch Heimwerkern mit viel Erfahrung existenziell.
Welche Prinzipien berücksichtigen wir beim Bauen?
Nach dem Motto „erstmal erhalten was da ist, bevor man neues baut“ sind wir dabei, ein altes Wohnhaus und ein ehemaliges Wassermühlen-Holzwollspinnerei-Gebäude instand setzen.
Alte Kulturtechniken und altes Wissen neu entdecken und nutzen
Hierbei versuchen wir anhand der vorhandenen Bausubstanz so viel wie uns möglich ist zu lernen. Alte Lehmmörtelmischungen geben uns z.B. Hinweise für das Mischverhältnis und dessen Anwendung.
Alte Schüttungen über Decken oder noch vorhandenes Dämmmaterial zeigen uns auf, welche regionaltypischen Ressourcen wir wofür nutzen können.
Aus umliegenden alten Scheunen erhalten wir als nutzlos erachtete, althergebrachte Werkzeuge, wie z.B. eine per Hand angetriebene Strohhäckselmaschine, die wir vortrefflich für das stromlose Bauen mit natürlichen Rohstoffen nutzen können.
Leider fehlt mittlerweile zu einigen Gerätschaften das dazu gehörende Handwerk und es fällt manchmal schwer, uns dieses Wissen wieder zugänglich und erschließbar zu machen. So erleben wir direkt, was es bedeutet, wenn Kulturwissen verloren geht.
Wie andere aus Gold Scheiße machen oder wie wir versuchen Sondermüll zu vermeiden
Alte Holzbalken, Lehmziegel, Lehmputz, Stroh-,Heu-,Wolldämmung usw. können häufig sogar als hochwertige Baustoffe noch einmal verwendet werden oder noch als Brennholz oder für den Kompost dienen. In der Spinnerei versuchen wir nicht nur, diese Baustoffe vorwiegend zu nutzen, sondern bei der Verarbeitung darauf zu achten, dass bei einem späteren Abriss die Baustoffe wieder zur Verfügung stehen könnten. Sollten z.B. in ferner Zukunft Glasflaschen wieder einen Wert bekommen, können allein aus unserer Bodendämmung ganz einfach wieder Tausende von Flaschen entnommen werden, ohne dass sie verunreinigt wären oder deren Reinigung besonderen Aufwand bedeuten würde. Unserer Meinung nach sollten Bauwerke weit über ihren aktuellen Nutzen hinaus auch Wertigkeit und Optionen für nachfolgende Generationen bieten.
Wenn man ein „modernes“ Gebäude abreißt, dann steht man vor einem riesigen Berg Sondermüll. Baustoffe, die mit Bauschaum, Silikon und Stahlbeton verbaut wurden, können kaum erneut verwendet werden. Zahlreiche Entsorgungsunternehmen im Land werden für ihre unschädliche Lagerung benötigt. Diese Baustoffe, die bereits in der Herstellung viele Ressourcen und Energie verbraucht haben, benötigen dies bei der Entsorgung noch einmal. Im Bauen überlassen wir gesellschaftlich nachfolgenden Generation eben nicht nur Baukunst, sondern oft auch eine nicht unerhebliche Menge Müll.
Wegwerfgesellschaft als Baumarkt nutzen – Re- und Upcycling von Materialien
In der Spinnerei haben wir eine recht große Lagerfläche zur Verfügung, die uns die Möglichkeit gibt, Baustoffe zu sammeln und zu erhalten. Und Baustoffe fallen überall zuhauf an: Ziegel- und Dachsteine, Fenster, Tonabwasserrohre, die nie verbaut wurden, Fliesen, Farbe, Nägel und Schrauben, alles, was man als Baustoffe so kennt. Aber auch Schafwolle, leere Weinflaschen, Paletten, verschiedenste Metallelemente, Holzbretter, -balken, -latten bis hin zu 9000 Striezelmarkt-Glühweintassen bieten Möglichkeiten für kreatives Dämmen und Konstruieren und damit Lösungen für viele spezielle Fragestellungen:
Was findet sich erstaunlich oft in ähnlicher Form in bereits vergangenen Techniken wieder (z.B. Dämmung über Hohlgefäße) oder wie deckt man ein Dach, wenn man viele verschiedene Biberschwänze verschiedener Maße zur Verfügung hat? Wie baut man Lehmwickeldecken ohne Langstroh mit Schafwolle oder warum kann man mit Hohlmauern auch Lehmbautechniken wieder verwenden?
Wir versuchen die Vorteile der Baustoffe zu nutzen, wenn sie am richtigen Ort verbaut werden.
Dafür testen wir eine sehr große Bandbreite an Baustoffen auf ihre Materialeigenschaften. Dies tun wir in kleinen Projekten, wie Wände aus Wolle in einem Außengebäude oder Trockenmauern aus unterschiedlichsten Steinen. Dazu kommt, dass wir viele Baustoffe benutzen, die so früher nie zur Anwendung kamen, weil sie gar nicht verfügbar waren. Das betrifft z.B. Baumwolltextilien, die man zum Bauen verwenden kann, aber auch gebrannte Tonröhren, die anstelle von PU-Rohren überall weggeworfen werden.
Gelernt ist gelernt – Professionalität trifft Wissensdurst
Bei der Wiederherstellung der Fabrik haben wir zwei Ziele im Sinn: zunächst das Bildungsangebot an interessierte Menschen, am Bauprozess teil zu nehmen und die spätere Nutzung des Gebäudes als Räumlichkeit zu Bildungszwecken.
Aus diesem Grund wünschen wir uns eine Zusammenarbeit mit Handwerkern, die Lust haben, ihr Können weiter zu geben. Direkt anhand geeigneter Bauabschnitte soll Wissen von Experten an Laien vermittelt werden. Denkbare Formate hierfür wären Workshops oder Workcamps.
Sozial verträgliches Bauen?
Hinter fast allen Baustoffen der heutigen Zeit verbergen sich Ausbeutung, Menschenrechtsmissachtung und unfairer Handel weltweit. Wir können beim Kauf eines Baustoffs nicht auf dem Etikett lesen, was dahinter steht. Anhand von Schwarzbüchern und anderen Dokumentationen können wir aber vieles davon erfahren. Dennoch ist es kaum möglich, in Deutschland ein Haus zu errichten, ohne dabei irgendwo auf der Welt anderen Menschen Leid zuzufügen. Bevor wir einen Baustoff wählen, diskutieren wir deswegen lange seinen Hintergrund. Dies hat meist zur Folge, dass zum Verkauf stehende Baustoffe nicht gewählt werden. Auch aus ethischer Sicht macht daher Recycling und die Verwendung natürlicher, ortstypischer Materialien Sinn.
Gut Ding will Weile haben – der Faktor Zeit beim Bauen
Viele althergebrachte Bautechniken finden kaum noch Anwendung, allein weil sie länger dauern oder umständlicher beim Verbauen sind. So werden z.B. Lehmwickeldecken heutzutage meist durch Mörtelputz ersetzt. Dabei sind es nicht die Vorteile von Zementputz, die überzeugen. So kann Lehm viel besser die Feuchtigkeit regulieren, bedarf kaum Energie in der Herstellung und hat keine uns bekannten Nachteile in seiner Funktion. Er ist allerdings aufwendiger zu mischen, schwer aufzubringen und muss trocknen statt abzubinden. Alles Zeitfaktoren, die dem Zementputz einen Vorteil verschaffen. So gibt es viele Entscheidungen für Baustoffe, die allein durch geringeren Dienstleistungsaufwand überzeugen.
Wir entscheiden uns beim Bauen bewusst für den Faktor Zeit – und damit für weniger Technik- und Energieeinsatz und langlebigere Materialien, die ein gesünderes Raumklima schaffen.
Mut machen und Selbstwirksamkeit erfahren
Bauen ist bei vielen Menschen mit der Angst verknüpft, Fehler machen zu können. „Ich kann das bestimmt nicht“ ist die geläufige Antwort, wenn wir Gäste fragen, ob sie Lust haben, beim Bauen zu helfen. Wir glauben, dass Bauen Spaß macht: Durch gemeinschaftliches Tun und die Freude am Wirksam-Werden. Deswegen öffnen wir unsere Bauarbeiten vielen Menschen, z.B. über WWOOF. Mithilfe des angeleiteten und gemeinsamen Arbeitens helfen wir ihnen, ihre Hemmungen zu überwinden und geben ihnen das Gefühl, wirklich mitzuwirken. Viele Menschen erinnern sich gern daran, was sie in der Spinnerei mit gebaut haben, haben eigene kleine Projekte begonnen und tauschen sich gerne mit uns über ihre Erfahrungen aus.